Kolumne

Spätestens seit Beginn des Ukraine-Kriegs wissen wir: Energie ist zentral und mit der Dekarbonisierung werden wir immer mehr Strom brauchen. Allerdings: Der Strom kommt zwar aus der Steckdose – doch zuvor muss er produziert werden.
Und ist unser Land zurzeit Spielball politsicher Einflussgruppen. «Nimby» – «not in my backyard» oder auf Deutsch: nicht in meinem Hinterhof – gilt auch hier. Statt entschieden in Städten, Gemeinden und gewissen Bergregionen Solar- und Windkraftanlagen zu bauen, die Wasserkraft kraftvoll auszubauen und die Stromnetze auf die dezentrale Stromproduktion auszurichten, blockieren Einsprachen von Privaten und vor allem der Umweltverbände den Ausbau. Selbst bei der Nutzung der Gebäudetechnik, einem enormen Einsparpotential, geht es nicht genügend schnell. Die Rechnung werden wir in einigen Jahren präsentiert bekommen, wenn der Strom knapp wird.
Zuvor wird das Volk eine weitere hitzige Debatte führen: Wollen wir das Stromabkommen mit der EU annehmen oder nicht? Aus Sicht der Tech-Industrie liegen die Vorteile auf der Hand. Die Schweiz hat gut verhandelt:
Das Stromabkommen ermöglicht der Schweiz beim Stromhandel ungehinderte Teilnahme und gleichberechtigte Bedingungen am europäischen Strombinnenmarkt. Das stärkt unsere Versorgungssicherheit im Fall von Energieknappheit. Sollte in einem kalten Winter zu wenig Strom produziert werden wegen Nebel im Flachland, und sollte gleichzeitig ein Kernkraftwerk ausserplanmässig ausfallen, wird der Strom in der Schweiz knapp. Ohne Stromabkommen darf die EU nur wenig Strom liefern, mit dem Abkommen hingegen sind Exportbeschränkungen in Krisensituationen gar nicht zulässig.
Mehr europäische Kooperation erleichtert die Netzstabilität – wie diffizil und wichtig das ist, haben wir beim Blackout in Spanien gesehen. Mit einem Stromabkommen würde die Schweiz, d.h. Swissgrid, wieder in alle Entscheidgremien zur Sicherung der Netzstabilität einbezogen und alle Informationen zu Stromflüssen erhalten. So wäre der Ausgleich von Leistungsdifferenzen besser plan- und günstiger produzierbar.
Das schenkt ein: In den letzten Jahren musste die Schweiz wegen fehlender Informationen immer mehr wertvolles Wasser aus Stauseen zur Sicherung der Netzwerkstabilität verturbinieren. Da gingen Millionen Franken verloren – mit dem Stromabkommen können diese Beträge in bessere Netze investiert werden.
Diese Investitionen sind nötig, fehlen aber oft in der Schweiz – einerseits wegen vieler Einsprachen, anderseits wegen verkrusteter Strukturen. Das Stromabkommen hilft, diese zu bereinigen. Unser Land leistet sich ein Verteilnetz mit mehr als 600 Verteilnetzbetreiber. Das ist exorbitant viel, gibt viele Schnittstellen und erhöht die Fehleranfälligkeit. Das Stromabkommen verlangt, dass die Schweiz die gesetzlich vorgesehene vollständige Öffnung des Strommarktes endlich vollzieht. Dies wird den Druck zur längst überfälligen Bereinigung erhöhen.
Gewinner sind die Konsumenten. Sie bekommen ein Auswahlmenu: Die Grundversorgung bleibt völkerrechtlich verankert, aber der Konsument darf in den Markt wechseln – und wieder zurück.
Es ist absehbar, dass Konsumenten wechseln wollen: Denn oft haben die Verteilnetzbetreiber nur ein Ziel: möglichst viel Strom zu verkaufen. Das verhindert Innovation und zwingt zum übermässigen Ausbau der Produktionskapazitäten und Netze. Es ginge anders: Selbst Schwellenländer nutzen heute intelligente Strommesser und ermöglichen damit Gebäudetechnologie, mit der Konsumenten ihren Stromkonsum individuell steuern bzw. reduzieren können.
Ein Beispiel: Eine grosse Stromspitze ist morgens zwischen 0700 und 0900. Wer bereits vorher das Haus verlässt, kann dann den Strombedarf bei Kühl- und Gefrierschrank problemlos aufs Minimum reduzieren. Niemand braucht die Geräte. Das entlastet das Portemonnaie und leistet einen Beitrag gegen Verbrauchsspitzen.
Die Wahlfreiheit zwischen Stromanbietern wird wie beim Telefonieren zu Wettbewerb und Innovation führen. Damit wird klar, wieso die Strompreise gemäss einer Studie von Ecoplan dank des Abkommens bis 2050 zu 14% tiefer liegen können. Profitieren werden damit auch die stromintensiven Unternehmen, deren Bruttowertschöpfung um 2 Prozent zulegen kann.
Für die Schweizer Tech-Industrie ist eine sichere Stromversorgung zu wirtschaftlich tragbaren Kosten ein zentraler Standortfaktor. Die gleichen Interessen haben die Konsumenten. Das Stromabkommen ist hier ein wichtiger Pfeiler einer nachhaltigen Lösung. Die Versorgungssicherheit der Schweiz wird erhöht, weil Exportbeschränkungen auch in einer Energiekrise nicht zulässig sind. Zudem werden die Kosten zur Netzstabilisierung gesenkt, weil Stromflüsse besser planbar sind und sich damit teure Ausgleichsmassnahmen reduzieren lassen. Vor diesem Hintergrund ist unverständlich, wieso das von SVP-Bundesrat Albert Röstis Chefbeamten ausgehandelte Abkommen von links und rechts angefeindet wird.
Für Euphorie ist aber selbst bei einer Annahme des Abkommens kein Platz: Denn das eingangsgeschilderte Malaise, dass wir mehr Strom produzieren und die Netze ausbauen müssen, bleibt bestehen. Dazu müssen wir dringend die ideologischen Gräben überwinden und Lösungen im Interesse unseres Landes finden.
Auf dass der Strom weiterhin aus unseren Steckdosen kommt!
Zur Person:
Stefan Brupbacher, promovierter Jurist, war Generalsekretär des WBF sowie der FDP Schweiz und sammelte Erfahrungen in verschiedenen Führungspositionen. Seit 2019 ist er Direktor von Swissmem und Vorstandsmitglied von Orgalim, dem europäischen Dachverband der Technologie-Industrien.






